Ist Achtsamkeit (un-)politisch?

14.11.2022

Verändert oder befeuert Achtsamkeit gesellschaftliche Entwicklungen, die Stress und Schmerz auslösen? Damit beschäftigte sich auf der MBSR-Jahreskonferenz der Workshop von Dr. Jacob Schmidt.

Foto: Canva

Achtsamkeit hat eine erstaunliche Popularität in den letzten Jahrzehnten erlangt – getragen von Verheißung und Hoffnung , aber inzwischen auch begleitet von Kritik. Verfestigt Achtsamkeit letztlich bestehende Strukturen oder steckt Veränderungspotenzial in der zentralen Übung, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und diese Gegenwart wertfrei zu beobachten?

Während seines Studiums der Psychologie und Gesellschaftstheorie hat sich Jacob Schmidt mit diesen Fragen an der Friedrich-Schiller-Universität Jena eingehender auseinandergesetzt und seine Dissertation zum Thema als Buch veröffentlicht: „Achtsamkeit als kulturelle Praxis. Zu den Selbst-Welt-Modellen eines populären Phänomens“.

„Eigentlich alle Anleitungen der bekannten Achtsamkeitsautoren enthalten eine deutliche gesellschaftliche Rahmung“, so Jacob. Jon Kabat-Zinn stellt einen Bezug zum Klimawandel her, andere zum Materialismus unserer Konsumgesellschaften. Einzig das MBCT-Manual (Mindfulness-Based Cognitive Therapy) nimmt keinen direkten Bezug auf gesellschaftliche Bedingungen. Dieser deutlichen Kontextualisierung wiederum steht entgegen, dass die Achtsamkeitstheorien das Individuum als Ausgangs- und Angelpunkt für mögliche Transformation definieren. „Only through a change within will there be a change without.” zitierte Schmidt Nyanaponika, The Heart of Buddhist Meditation. Und egal, in welcher Gesellschaft und in welchem Kontext man sich begibt - das Selbst bleibe davon unberührt. (Kabat-Zinn:„Wherever you go there you are“)

Die Workshop-Teilnehmer:innen, so zeigte sich, verstanden sich nicht nur als politisch interessierte Individuen, sondern viele von ihnen outeten sich auch im klassischen Sinn als politisch aktive Menschen, die sich in Parteien, als Bürgermeister oder in Initiativen wie Psychologists for Future engagieren. Sie brachten ihre Erfahrungen in die Diskussion mit ein:

„Achtsamkeit ermöglicht mir Regenerationsmöglichkeiten. Und danach wieder: die Haare auf den Zähnen bürsten und die Ellenbogen spitzen“, beschrieb es eine Teilnehmerin. Dem Bürgermeister einer Kleinstadt hilft Meditationspraxis dabei, „immer wieder vom Kissen hoffnungsvoll aufstehen, um die politische Sprachlosigkeit zu durchbrechen.“ Für viele entsteht ein Kraftfeld durch die Spannungen zwischen Meditation und politischer Arbeit, das sie bewusst in ihrer politischen Arbeit nutzen.

Auch das Thema Verzicht ist eine politische Fragestellung, aber auch eine wichtige psychologische Frage, so eine Teilnehmer:in  „Unser System baut darauf auf, dass Konsumwert und Glück zusammenhängen. Durch Achtsamkeit kann ein neues Glücksverständnis erstehen.“ Grundsätzlich bewirkt die Achtsamkeitspraxis etwas, so Teilnehmerin Heike Wagner: „Es kann sein, dass Entspannung dabei heraus kommt. Aber es kann auch sein, dass etwas Sand ins Getriebe deines Lebens gerät.“

 

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